Vom Prokrastinieren

Der Studierende im Allgemeinen zählt wohl unter den Menschen zu der Gruppe, die am meisten für das “Vorsichherschieben” von zu erledigenden Arbeiten bekannt ist. Noch viel schlimmer: Er ist nicht nur dafür bekannt, er scheint diese Tätigkeit, sofern man sie denn als Tätigkeit bezeichnen kann, mit der größten Überzeugung aktiv auszuleben. Erkennbar macht sich dies unter anderem durch zahlreiche in sozialen Medien kursierende Memes, welche den Studierenden in Verbindung mit Prokrastination humoristisch darzustellen versucht. Gewitzt wird das Prokrastininchen neben dem Zapfhahn und dem Nichtklausurelefant als Lieblingstier der Universitätsbesucher*innen aufgeführt. Oder aber es werden klassische Situationen dargestellt, die den typischen Prokrastinationsprozess erleutern und ein Gefühl der Dazugehörigkeit auslösen: “Heute gehe ich nicht zum Seminar, damit ich den Abgabetermin für meinen Essay einhalten kann, den ich in genau diesem Seminar schreiben muss. Wie widersprüchlich.” “Ha! Das kommt mir nur allzu bekannt vor, ich bin also nicht die einzige!”

Alleine diesen Essay habe ich bereits an den letzten drei Wochenenden endlich schreiben wollen. Jedes Wochenende habe ich erneut gedacht: “Dieses Wochenende wirklich“. Durchgezogen habe ich es aber nie. Dann habe ich es die letzte Woche endlich geschafft, wenigstens den ersten Absatz zu schreiben. Die Einleitung war damit geschafft. Das daraus resultierende, zufriedenstellende Gefühl, endlich vorangekommen zu sein, blockierte jedoch den weiteren Arbeitsprozess, sodass die Weiterarbeit wieder erst eine Woche später von statten gehen konnte.

In einem weiteren Fall soll ich für ein Seminar Fragen zu bestimmten Texten beantworten. Diese sieben Fragen muss ich innerhalb einer Woche einreichen. Meine Strukturierung steht fest. Sieben Fragen in einer Woche macht eine Frage pro Tag. Das kostet mich an einem Tag maximal eine halbe Stunde. Die Woche bricht an und meine Motivation zu starten hält sich in Grenzen. Mit einer nachvollziehbaren Logik argumentiere ich, dass es ja auch durchaus zu schaffen sei, mindestens zwei Fragen an einem Tag zu beantworten, dann habe ich noch mehr Zeit für andere Dinge. Was die anderen Dinge sind, bleibt in meiner Argumentation allerdings ungeklärt. Nach der Hälfte der Woche findet ein ähnlicher Gedankengang statt. Die Fragen lassen sich auch sehr gut auf zwei Tage aufteilen. Vier an dem einen Tag, drei an dem anderen. Am vorletzten Abgabetag stelle ich fest, dass ich ja noch dringend mein Zimmer aufräumen muss, die Wäsche waschen und das Bad putzen. Und so finde ich mich am letzten Abgabetermin wieder, wie ich völlig gestresst die endlich erledigte Arbeit eine halbe Stunde vor Abgabeschluss an meine Dozentin schicke, nachdem ich meine heutigen Uniseminare geschwänzt habe, damit ich die Abgabe noch rechtzeitig schaffe. Und wie ich mir wieder vornehme, beim nächsten Mal einfach früher mit der Bearbeitung anzufangen.

Eine besonders fatale Begebenheit ereignete sich im letzten Sommersemester, als der Dozent die Frist für die Essayabgabe wie folgt ankündigte: “Machen Sie es nach dem Michelangelo-Prinzip. Wenn Sie jemand fragt, wie lange es denn noch dauert, antworten Sie: Ich bin fertig, wenn ich fertig bin.” Bis heute habe ich mir für den Essay noch nicht einmal ein Thema überlegt. Man stellt fest: Es besteht schon eine gewisse Schwierigkeit, meine Aufgaben bis zu einem bestimmten Abgabedatum vernünftig einzuteilen. Es besteht allerdings eine noch größere Schwierigkeit, wenn mir kein bestimmter Termin vorgeschrieben wird. Ein vorgeschriebener Termin zwingt mich wenigstens dazu, meine Aufgaben überhaupt zu erledigen.

Das Prokrastinieren kann also in ganz unterschiedlichen Abläufen auftreten. Es kommt vor, dass Arbeiten angefangen werden, aber die Beendigung einfach immer weiter aufgeschoben wird. Es kommt vor, dass sie solange aufgeschoben werden, bis sie auf den letzten Drücker unter Schweiß und Tränen endlich erledigt werden. Und es kommt vor, dass sie vorerst nicht einmal begonnen werden. 

Zu jedem Semesterstart nehmen sich tausende von Studierenden vor, dieses Mal endlich alles besser zu machen und Abgaben rechtzeitig und mit dem richtigen Zeitmanagement zu erledigen. Und jedes Semester türmen sich wiederholt die unerledigten Aufgaben. Das Prokrastinieren unterliegt dem bekannten Konflikt von Theorie und Praxis. Die Lösung des Problems scheint in der Vorstellung einfach, scheitert jedoch immer wieder an der Umsetzung. Das ist schade, aber im Grunde genommen auch in Ordnung. Denn man sollte nicht vergessen: Ohne das “Vorsichhinschieben” dieses Essays wäre der Essay in der jetzigen Form wahrscheinlich nie entstanden.




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